October 12 – November 21 2024
Exhibition views: Marina Pinsky
Single views: courtesy of the artist and CLEARING New York, Los Angeles, photo by Benjamin Baltus
13 October, 16:00: Listening Session by Ethan Braun. Listen here.
31 October, 12:30 Hansaviertel Walking Tour (in English)
21 October Artist Talk & Walk
→ Press
PROVENCE
Art Viewer
ELLE Germany (print + online)
tipBerlin (November 2024, print + online)
Daily Lazy
Contemporary Art Library
KUBAPARIS
– DE –
Text von Dominikus Müller
Acht Tischskulpturen: das Hansaviertel in Berlin, aufgeteilt in einzelne Plastiken entlang subjektiv gezogener Grenzen. Diese folgen zwar größtenteils den Straßen und Demarkationen jenes Viertels am Nordrand des Tiergartens, sorgen in ihrer ungewöhnlichen Partitionierung aber auch für gewisse Irritation. Wer mit dem Stadtteil vertraut ist, erkennt dennoch schnell die Straßen, die sich durch die das Viertel ziehen, kann dieses oder jenes Haus identifizieren, das sich aus der patinierten Bronze erhebt – im sehr viel bekannteren Süden der Bahntrasse, wo sich jene, in den 1950er-Jahren für die IBA 57 entstandene Mustersiedlung mit ihren prägnanten, im Grün des Parks annähernd freigestellten Bauten bekannter (und ausnahmslos männlicher) Architekten befindet, ebenso wie im weniger auffälligen Norden mit seinem größeren Altbaubestand und der dichteren Neubebauung aus den 1960er-Jahren.
Ursprünglich waren diese Skulpturen von Marina Pinsky Teil eines umfassenderen, erstmals 2020 in Brüssel präsentierten Werkkomplexes. Pinsky hatte sich darin, grob gesagt, mit dem Blick hinauf in den Himmel, mit Sternbildern und Sternkarten, ebenso wie mit dem hinunter auf die Erde, mit Luftaufklärung und Satellitenbildern, auseinandergesetzt. In zwei verkoppelten Serien baute sie die Stadtviertel, in denen sie lebte, eben das Hansaviertel sowie den Brüsseler Stadtteil Koekelberg, auf Grundlage von Google-Maps-Bildern nach. Betont handgemacht streichen diese Arbeiten gerade die persönliche Wiederaneignung, das subjektive Herunterrechnen des vom technischen Bild abstrahierten eigenen Lebensumfelds heraus. Pinsky behielt die Glitches und Abweichungen der Ausgangsbilder bei, und so verliert über ihr dezidiert subjektives Übertragen der Bilder hinaus auch das Kameraauge ein Stück weit seine vermeintliche Objektivität.
Doch diese Geschichte, diese ihrerseits vermeintlich objektive Rede von Ideen, Konzepten und Verfahren, mit der sich die Erfahrung von Kunst aus der eigenen unmittelbaren Anschauung ein Stück weit ins allgemeingültig Diskursive hochrechnen lässt, tritt im Falle der Ausstellung bei GROTTO, einem Raum, der sich inmitten des Hansaviertels befindet, in den Hintergrund. Herausgelöst und ohne das Koekelberg-Pendant tritt nun, da die Darstellung in das eingefügt wird, was sie darstellt, der Ort selbst ins Zentrum. Das Ergebnis: Beobachtung der Beobachtung, eine Echokammer, Selbstreflexion. Die dazugehörige Lesart: Wiedererkennendes Abgleichen ... das ist doch ... siehst du hier ... erkennst du da ... ja, genau. Hier sind wir, heute.
Im Hansaviertel – womit nicht ganz korrekt meist nur das Interbau-Ensemble gemeint ist – lebt Marina, lebt Leonie, die GROTTO betreibt, lebe ich. Es ist ein Viertel, das geprägt ist von Abwesenheiten, von dem, was einst hier stand und nicht mehr ist, von dem, was jenseits seiner Grenzen liegt und indirekt seine Form bestimmt. Topografisch: der weniger prominente Norden des Viertels, der üblicherweise einfach unterschlagen wird. Politisch: sein Pendant im früheren Ostberlin, die ehemalige Stalinallee mit ihren opulenten „Arbeiterpalästen“, als deren Gegenpart die modernistisch-klaren und eher bescheidenen Wohnungen des Hansaviertels im Systemwettstreit des Kalten Krieges entstanden. Und historisch: jene Vergangenheit, vor der dieses aus dem Boden gestampfte Quartier, diese „stadt von morgen“, wie eine dazugehörige Bauausstellung hieß, in Richtung Zukunft fliehen wollte. „Tomorrow Never Comes“, Morgen kommt nie, antwortet Marinas Ausstellung mit ihrem Titel 2024 wie ein fernes Echo auf diesen programmatischen Titel von 1957. Der Ort mag derselbe sein, die Zeiten aber haben sich geändert. Aus dem Morgen ist längst ein Gestern geworden.
Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, die hier leben, aber je länger ich hier wohne, desto deutlicher tritt jene abwesende Vergangenheit hervor, die wie ein Verdrängtes durch die lichte Eleganz fast ungebrochen vorherrschenden Mid-Century-Modernismus an die Oberfläche drängt. Je weiter in die Zeit zurück das abstrakt gehaltene Morgen von damals sinkt, desto deutlicher wir es als Abwehr eines noch älteren, aber umso konkreteren Gestern sichtbar. Zahlreiche Gedenktafeln und Stolpersteine erinnern an die, die einst hier wohnten, längst gestorben, oft deportiert und ermordet. Riesige Bäume zeichnen in Spalieren Alleen ins Grün, wo keine mehr sind. Der Schutt der alten Gebäude, die bis auf wenige Ausnahmen in mehreren Bombennächten im November 1943 niederbrannten, liegt nur knapp unter den geschwungenen Bodenmodulationen der fließenden Landschaftsarchitektur oder steckt gleich als Zuschlag im Beton. Die weiten Fenster der Neubauten, die aus den Kratern emporwuchsen, indes verheißen eine Offenheit, die nichts zu verbergen scheint. An ihren bunt gekachelten Fassaden lässt sich alles abwaschen, auch die eigene Schuld.
Gehe ich durch das Viertel, erscheinen die großen Abstände zwischen den Gebäuden als Lücken und Leer- stellen. Das Ensemble der Interbau: ein paradoxer Zeitknoten, der sich nicht entwirren lässt, ein komplexer Ort mit verklebten Schichten; ein Denkmal, an dem nicht zuletzt deutlich wird, dass man im Nachkriegsdeutschland vor dem Erinnern und Gedenken vor allem das Vergessen und Verdrängen übte; ein Mahnmal – indirekt, in Teilen unfreiwillig und wahrscheinlich gerade deshalb so eindrücklich.
Heute kämpft das Viertel, umfassend unter Denkmalschutz stehend, mit seiner eigenen Musealisierung. Denn Musealisierung – etwas grundsätzlich anderes als lebendige Erinnerung – ist eine zweischneidige Angelegenheit. Allzu schnell verkantet sich der notwendige Impuls zum Bewahren in konkretem Stillstand. Die Folge blockierter Zukunftshorizonte ist ein Mangel an Gegenwart. Auch darauf scheint mir die bewusst konventionell gewählte, an die Fünfzigerjahre angelehnte Formensprache der Skulpturen Marinas hier zu verweisen: ein Wiedergänger jenes Tischmodells des Viertels, mit dem damals im sogenannten Berlin-Pavillon der Entwurf visualisiert wurde, heute in Form einer ewigen Bronze der Zeit enthoben.
Es gibt noch ein zweites Element in der Ausstellung, ein Wandgemälde an der Rückseite des Raums, das – in fast schon dialektischer Manier ebenso abstrakt-geometrisch wie die Skulpturen konkret – die Dinge wieder in Bewegung bringt. Ein neuer Plan? Ein Entwurf vielleicht, gekippt aus der Horizontalen in die Vertikale. Eventuell ein Sitzmodul, ein Ort, an dem die Menschen zusammenkommen können. Die drei Formen darüber stammen aus Marcel Duchamps 3 Stoppages étalon (1913/14). Duchamp hatte dafür einen exakt einen Meter langen Faden auf eine Leinwand fallen lassen und die entstehenden Formen ausgeschnitten: neue Einheiten für ein anderes Maß, die das Abweichende, Zufällige und Individuelle gerade auf der Grundlage des Normierten, Festgeschriebenen und Gemeinsamen betonen.
Ließe sich dieses Bild nun von der Wand zurück in den Raum kippen, auf dass es sich, ohne diese zu verdecken, wie eine weitere Schicht über die bronzene Version des Viertels legt? Wäre das nicht ein schönes Bild für gelebte und aktive Nachbarschaft im Sinne jener Dichte, die dem Viertel nicht auf geschichtlicher, aber doch auf konkreter städtebaulicher Ebene abgeht? Für eine Dichte, die das Gegenteil eines abstrakten Allgemeinen meint, nämlich Komplexität und konkrete, greifbare Nähe, wie sie nur ein gemeinsam belebter Ort bieten kann, der seine Geschichte, sein Geworden-Sein im fortwährenden Austausch aktualisiert. Denn auch Museen sind am Ende nur die Menschen, die in ihnen arbeiten, sich ihrer Artefakte annehmen und diese immer wieder neu zum Leben erwecken. Und Stadtviertel entsprechend die, die es bewohnen, die dort zusammenkommen für eine bestimmte Zeit, gemeinsam handeln, in diesem Heute und nicht irgendeinem – zufällig hier gelandet wie Fäden auf einer Leinwand. Nein, auf dieser Leinwand.
– EN –
Text by Dominikus Müller
Eight table sculptures: the Hansaviertel in Berlin, divided into individual sculptures along subjectively drawn borders. While these mostly follow the streets and demarcations of that district on the northern edge of the Tiergarten, their unusual partitioning creates a certain disorientation. However, those familiar with the neighborhood will quickly recognize the streets cutting through the district and identify certain buildings that rise from the patinated bronze—particularly in the much better-known southern part of the railway tracks with its model settlement, created in the 1950s for the IBA 57, featuring striking buildings by well-known (and exclusively male) architects; buildings that seem to stand almost isolated in the greenery of the park. This is contrasted by the less prominent northern part, with its larger stock of old buildings and denser new developments from the 1960s.
Originally, these sculptures by Marina Pinsky were part of a broader work complex, first presented in Brussels in 2020. In that work, Pinsky explored, broadly speaking, the gaze upward into the sky, with constellations and star maps, as well as downward to the earth, dealing with aerial reconnaissance and
satellite imagery. In two interconnected series, she recreated the neighborhoods where she lived—the Hansaviertel and the Koekelberg district in Brussels—based on Google Maps images. These works, emphasizing the handmade, highlight personal reappropriation, a subjective scaling down of one’s own environment from an abstract technical image. Pinsky retained the glitches and distortions of the original images, and through her decidedly subjective translation of these images, the camera’s eye also loses a bit of its presumed objectivity.
However, this narrative—this supposedly objective discourse of ideas, concepts, and processes that allows the experience of art to be elevated from personal observation to a general discourse—takes a backseat in the case of the exhibition at GROTTO, a space located in the middle of the Hansaviertel. Detached from its Koekelberg counterpart and now situated within what it represents, the place itself takes center stage. The result is the observation of an observation, an echo chamber, self-reflection. The associated reading: recognition and comparison ... isn't that ... do you see here ... do you recognize there ... yes, exactly. Here we are, today.
In the Hansaviertel—here, not entirely correct, referring the Interbau ensemble—live Marina, Leonie (who runs GROTTO), and I. It’s a neighborhood shaped by absences, by what once stood here but is no longer, by what lies beyond its borders and indirectly shapes its form. Topographically: the less prominent northern part of the district, usually overlooked. Politically: its counterpart in former East Berlin, the old Stalinallee with its opulent “workers' palaces,” to which the modernist, clear, and rather modest apartments of the Hansaviertel were created as a counterpart during the Cold War. And historically: the past from which this district, this “city of tomorrow” (as a related building exhibition called it), tried to escape toward the future. “Tomorrow Never Comes,” Marina’s exhibition title for 2024, echoes that programmatic title from 1957 like a distant reverberation. The place may be the same, but the times have changed. Tomorrow has long since turned into yesterday.
I don’t know how others who live here feel, but the longer I stay, the more that absent past becomes apparent, pushing through the bright elegance of the almost uninterrupted mid-century modernism. The further back in time that abstract “tomorrow” from back then sinks, the more clearly it reveals itself as a defense against an even older, but all the more concrete, yesterday. Numerous memorial plaques and “Stolpersteine” (stumbling stones) remind us of those who once lived here—long dead, often deported and murdered. Giant trees trace avenues into the greenery where none remain. The rubble of the old buildings, almost all destroyed in several nights of bombing in November 1943, lies just beneath the undulating ground modulations of the flowing landscape architecture or is embedded as aggregate in the concrete. The large windows of the new buildings that rose from the craters, meanwhile, promise an openness that seems to hide nothing. And on their brightly tiled facades, everything can be washed away, even guilt.
As I walk through the neighborhood, the large spaces between the buildings appear as gaps and voids. The Interbau ensemble: a paradoxical knot of time that cannot be untangled, a complex place with stuck layers; a monument that clearly demonstrates that in post-war Germany, before remembering and commemorating, forgetting and repressing were practiced. A memorial—indirectly, in part unintentionally, and perhaps all the more striking because of that.
Today, the neighborhood, which is comprehensively protected as a historical monument, struggles with its own musealization. Musealization—something fundamentally different from living memory—is a double edged sword. The necessary impulse to preserve too quickly locks into concrete stagnation. The result of blocked future horizons is a lack of the present. This, it seems to me, is what the deliberately conventional form language of Marina's sculptures, reminiscent of the 1950s, points to: a revenant of the neighborhood's table model, with which the design was visualized in the so-called Berlin Pavilion back then, now suspended in time as an eternal bronze.
There is also a second element in the exhibition, a mural on the back wall of the room that—in an almost dialectical manner, as abstract-geometric as the sculptures are concrete—sets things in motion again. A new plan? Perhaps a design, tipped from horizontal to vertical. Maybe a seating module, a place where people can come together. The three shapes on top are from Marcel Duchamp's ‘3 Stoppages étalon’ (1913/14). For that work, Duchamp let a one-meter-long string fall onto a canvas and cut out the resulting shapes: new units for a different measurement, emphasizing deviation, randomness, and individuality but based on the standardized, fixed, and shared.
If this picture could now be tipped from the wall back into the space, so that, without covering it, it would end as another layer over the bronze version of the neighborhood? Wouldn’t that be a beautiful image for a lived and active community, representing a density that the neighborhood lacks, not on a historical level, but on a tangible urban planning one? A density that is the opposite of an abstract generality, meaning complexity and concrete, tangible proximity, as only a jointly animated place can offer—one that constantly renews its history and its becoming through ongoing interaction. Because even museums are, in the end, just the people who work in them, who care for their artifacts and continually bring them back to life. And neighborhoods, accordingly, are made up of the people who live in them, who come together for a certain time, acting together in this present, not another one landing here by chance, like strings on a canvas. No, on this canvas.